„Keine Ghettoisierung der Senioren“ Bremens früherer Bürgermeister Henning Scherf diskutierte in Trostberg mit Interessierten über neue Wohnformen für ältere Menschen

06. November 2014

Deutschland wird alt. Lag die Lebenserwartung eines Menschen vor 150 Jahren noch bei 40 Jahren, werden heute geborene Mädchen durchschnittlich 83, Buben 78 Jahre alt. Laut Statistischem Bundesamt klettern diese Werte in den kommenden Jahrzehnten noch weiter nach oben. Um sich dieser Entwicklung anzupassen, muss sich in der Gesellschaft einiges ändern. Über die Auswirkungen des demografischen Wandels und seine Chancen diskutierte Hennig Scherf, ehemaliger Bürgermeister der Hansestadt Bremen, auf Einladung der heimischen SPD-Bundestagsabgeordneten Bärbel Kofler mit Interessierten in Trostberg.

„Im Schnitt werden wir schon jetzt 30 Jahre älter als unsere Großeltern“, gab der 76-Jährige zu bedenken. Für viele der „neuen Alten“ sei die steigende Lebenserwartung ein Grund zur Freude. „Sie sind fitter und haben immer später das Gefühl, wirklich alt zu sein. Entgegen der allgemeinen Annahme sind die meisten Menschen heutzutage bis zum 75. Lebensjahr im vollen Besitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte. Deshalb entwickelt sich die Zeit zwischen 60 und 75 zu einem eigenen Lebensabschnitt“, betonte der SPD-Politiker. Dieses „zusätzliche Leben“ berge unzählige Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten. „Auch nach der Berufstätigkeit sollte sich jeder Mensch sinnvoll beschäftigen, seine kreative Potenziale nutzen. Nichts ist schlimmer, als nichts zu tun zu haben“, bekräftigte der Gast aus dem hohen Norden.

Dass zugleich immer weniger Junge nachwachsen, macht viele ratlos, einige sogar panisch – nicht jedoch Henning Scherf. Er sieht diese Entwicklung als Chance für die unterschiedlichen Generationen: „Die Fähigkeiten der betagten Gesellschaftsmitglieder nimmt an Bedeutung zu. Davon profitieren auch und vor allem die Jungen.“ Scherf macht sich aus diesem Grund für flexiblere Arbeitszeitmodelle stark, die gemeinsam mit den Gewerkschaften gestaltet werden müssten. Viele Firmen böten ihren Arbeitnehmern inzwischen sogenannte Tandem-Modelle an, in denen sich Jüngere und Ältere je nach Belastungskriterien und Unterstützungsmöglichkeiten Aufgaben teilen. Darüber hinaus engagieren sich viele Rentner auch in hohem Maße ehrenamtlich für die Gesellschaft. „Die Lebensphase Alter ist nicht mehr mit Krankheit und Unproduktivität gleichzusetzen. Vielmehr erbringen Ältere heute bereits einen großen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand“, sagte Henning Scherf. Allerdings dürften Länder, Städte und Gemeinden das Engagement der Rentner nicht ausnutzen, um Kosten einzusparen, betonte das ehemalige Stadtoberhaupt in der Diskussion.

Auch für den sozialen Bereich hat die Bevölkerungsentwicklung weitreichende Folgen: Bisher lebt die große Mehrheit der Menschen bis ins hohe Alter allein in privaten Haushalten; jedoch sind nur die wenigsten Wohnungen bedarfsgerecht ausgestattet. Henning Scherf plädierte dafür, älteren Menschen adäquate Wohnmodelle anzubieten. „Es ist wichtig, dass Wohnformen geschaffen werden, in denen Menschen unterschiedlicher Generationen zusammenleben und sich gegenseitig stützen, auch wenn sie nicht miteinander verwandt sind“, forderte der promovierte Jurist: „Es darf keine Ghettoisierung der Senioren stattfinden. Das Beste, was alten Menschen passieren kann, ist, immer wieder Begegnungen mit Kindern zu erleben.“ In einer solchen Alten-, Wohn- und Hausgemeinschaft leben Scherf und seine Ehefrau Luise seit nunmehr 27 Jahren. „Wir waren noch keine 50 Jahre alt, als wir mit einigen Freunden unter ein gemeinsames Dach gezogen sind. Der entscheidende Anlass war, dass unsere drei Kinder die Schule beendet hatten und ihre Studienorte weit entfernt von uns waren“, erzählte der Ex-Bürgermeister. Herausgekommen ist ein gemeinsames Innenstadthaus für zehn Personen. Drei Bewohner haben eine Eigentümergemeinschaft gegründet, die anderen leben zur Miete. „Das kann sich auch ein Freund von mir leisten, der nur eine dürftige Rente unter dem Hartz-IV-Niveau bezieht“, erzählte der 76-Jährige.

Wichtig war und ist, dass in dem Haus immer wieder junge Mitbewohner lebten und leben. Zudem verfügt das Haus über genügend Platz für Besucher, beispielsweise für die Kinder und Enkelkinder. „Jeder, auch der nur zeitweilige Besucher, ist eine Anregung für uns alle. Wir fühlen uns umgeben von einer großen Zahl lieber Menschen, die neugierig auf uns sind und die uns Freude in unser Haus bringen. Unsere Enkel wissen, dass sie willkommen sind, während unsere allein stehenden Mitbewohner dies als Familienlösung betrachten.“

Der Alltag der Bewohner der Hauswohngemeinschaft ist durch und durch selbst bestimmt. Nur am Samstagmorgen kommen die Bewohner zum Frühstück zusammen. „Bei dieser Gelegenheit wird alles Wichtige verhandelt. Beschlossen wird nur einstimmig“, erläuterte der Sozialdemokrat. Auf eine Gemeinschaftsküche oder einen Gemeinschaftsraum haben Scherf und seine Mitbewohner bewusst verzichtet. „Jeder hat so viel Platz in seiner Wohnung, dass er Gastgeber für die Anderen sein kann. Das hat große Vorteile: Wir hatten noch nie Stress wegen nicht erledigter Aufräumarbeiten gehabt, auch das Abrechnen für gemeinsame Essen fällt weg, weil jeder Gastgeber alles selber organisiert und sich freut, dass er die folgenden Wochen Gast der Anderen ist.“ Inzwischen hat nur noch ein Mitbewohner ein Auto, das bei Bedarf an die Mitbewohner verliehen wird, und regelmäßig fährt man gemeinsam mit den Enkelkindern in den Urlaub. Konflikte, so versicherte Scherf auf Nachfrage, werden ganz offen miteinander besprochen oder mit Hilfe eines Mediators aus der Welt geschafft.

Das Schlüsselerlebnis für die Hauswohngemeinschaft war, als zwei Mitbewohner schwer erkrankten. „Beide wollten da alt werden, wo sie zu Hause waren. Wir haben sie über sieben Jahre in unserem Haus gepflegt und sterbebegleitet. Beide waren nie allein, auch nachts nicht. Das hat unsere Gemeinschaft noch enger zusammengeschweißt“, erinnerte sich der SPD-Politiker.

Inzwischen gibt es deutschlandweit 30000 solcher Hauswohngemeinschaften. Dazu kommen weitere 1000 Pflegewohngemeinschaften für Demenzkranke. „Diese Menschen wollen und dürfen nicht einfach weggesperrt werden, weil sie ihren Namen vergessen oder sich nur noch in Stereotypen verständigen können. Auch Demenzkranke können durchaus kleinere Aufgaben übernehmen. Einige von ihnen können wunderbar malen, andere bei der Essenszubereitung helfen. Es macht sie unsagbar stolz, wenn sie in der Gesellschaft etwas leisten dürfen“, betonte Scherf. Er bezeichnete diese Art der Wohnform als „Antwort auf die Personal- und Finanznot“ in der herkömmlichen Altenpflege: „Pflegewohngemeinschaften sind ein Pflegemix aus Angehörigen, Nachbarschaftshelfern und Hauswirtschaftshilfen. Lediglich mit der professionellen medizinische Betreuung der Bewohner sind ambulante Pflegedienste betraut“, erklärte Scherf das Modell. Aufgrund der geringeren Kosten sei dies für die Betroffenen nicht nur „menschlich, sondern auch finanziell eine attraktive Alternative zu Altenpflegeheimen“.

(Text: Michaela Aßmann, freie Journalistin)

BILDTEXT: Henning Scherf, früherer Bremer Bürgermeister, lebt selbst seit mehr als 25 Jahren in einer Alten-, Wohn- und Hausgemeinschaft.

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